FeloStorisches

Donnerstag, 9. Februar 2006

Zorniger Zwerg mit Zettel

Letzten Mai hatte ich eine Begegnung der unangenehmeren Sorte, und zwar in Köln-Mühlheim. (Kenner der Materie haben mir bestätigt, dass sich Köln-Mühlheim für unangenehme Begegnungen besonders eignet.)

Ich war gerade aus der Stadthalle gekommen, gut gelaunt, weil ich dort auf der Comicbörse schöne Comics gekauft und nette Bekannte getroffen habe; gut gelaunt, aber in Eile, weswegen ich mir auch nicht beim Mühlheimer Burger King einen Burger geholt hatte (dem mit Abstand langsamsten Fast-Food-Lokal in ganz Köln!) sondern mir lieber beim Bäcker ein mit Ballaststoffen, Frischkäse, Putenbrust und Tomaten belegtes Brötchen gekauft habe, weil das mit Abstand schneller ging, viel gesünder ist und unverhältnismäßig mehr stopft als so ein Burger, und (Sie werden gleich sehen: das führt noch irgendwo hin!) während ich also dieses überfrachtete Brötchen auf dem Weg zum U-Bahngleis in mich reinstopfe, sehe ich, dass mich mein Weg genau durch das führt, was wohl alle Passanten in Fußgängerzonen am meisten fürchten, eine Gruppe Problem-Menschen, die weniger vom Schicksal geschlagenen Mitmenschen Prospekte und Gespräche aufhalsen wollen! Während ich mir noch überlege, wie um alles in der Welt ich es schaffen soll, an denen vorbei zu kommen, ohne dass mir einer von ihnen ein Prospekt oder Gespräch aufdrängt, passiert auch genau das: einer von ihnen stellt sich mir in den weg und nötigt mich so zur Annahme eines schmuddeligen Stück Papiers und eines Wortaustausches.
Verwirrend an sich war schon einmal die Tatsache, dass es sich bei dem Zettelverteiler um einen ca. 1 m 20 großen Kleinwüchsigen gehandelt hatte. Noch verwirrender war der Umstand, dass der Rest der Gruppe keineswegs aus Kleinwüchsigen, oder sonst irgendwie körperlich abnormen Personen handelte, weswegen ich mir später eingestehen musste, dass es sich bei der Angelegenheit wohl doch nicht um eine Kleinwüchsigen-Selbsthilfegruppen-Aktion handelte, wie ich zuerst glaubte, sondern wohl um etwas ganz anders, und ich nun beschämt einsehen muss, dass nicht alle Probleme, die kleine Menschen haben, damit zusammen hängen, dass sie klein sind. Das hat schon Randy Newman erkannt: Short People are just the same as You and I, und ich, der ich vorhin beim Mitsingen noch stolz glaubte, den Song so toll begriffen zu haben, muss mir nun eingestehen, auch nur gerade mal mehr davon verstanden zu haben als beispielsweise Marius Müller Westernhagen, das dürre Arschloch. Aber ich schweife ab.

Was mich an der Begegnung mit dem Zettel verteilenden Kleinwüchsigen weiterhin verwirrte, war der Zettel selbst, der mich im ersten Moment an die Sorte Zettel erinnerte, die Taubstumme in Kneipen an arglose Kneipenbesucher verteilen, zusammen mit den geschmacklosesten Schlüsselanhängern und Ansteck-Pins, die menschliche Augen je erblicken mussten, so geschmacklos, dass man sie sich nie im Leben freiwillig kaufen würde, und man den Verdacht hat, dass der Verkäufer eher blind sein muss als taubstumm, aber das kann man dem Taubstummen natürlich schlecht sagen! Der würde es zwar nicht hören, aber dafür alle anderen in der Kneipe, und deswegen geht das nicht.
Ich frage mich immer, wo kriegen diese armen Taubstummen diesen ganzen Ramsch nur her? Der sieht bei allen gleich aus: meistens irgendwelche schlecht imitierten Comicfiguren mit Glitzer-Strass. Gibt es irgendwo einen Taubstummen-Discounter, der sich auf genau dieses Zeug spezialisiert hat? Haben Taubstumme etwa alle den gleichen, miesen Geschmack? Oder gibt es ein bundesweit agierendes Taubstummen-Hilfs-Zentrum, in dem der zuständige Sachbearbeiter tatsächlich glaubt, er gäbe arbeitslosen Behinderten eine Hilfestellung, finanziell wie psychologisch, wenn er sie mit diesen peinlichen, geschmacklosen Scheußlichkeiten ausgestattet auf die Menschheit loslässt?
Ich weiß es nicht. Vielleicht stecken da ja auch die gleichen Leute dahinter, die Rosenverkäufer mit Rosen versorgen.

Der Zettel, den mir der zornige Zwerg (das ist jetzt gar nicht politisch korrekt von mir, pfui! Aber es klingt so schön, da konnte ich es mir einfach nicht verkneifen!) in die Hand drückte, sah fast genauso aus, nur ohne MinnieMaus-Anhänger. Allerdings war er um einiges schmuddeliger und auf ihm stand nichts weiter als “Sprechen Sie mich an.” Während ich noch verwirrt da stand, in der einen Hand mein auseinanderfallendes Brötchen haltend, und mit der anderen Hand den schmierigen Zettel umdrehte, um zu sehen, ob nicht vielleicht auf der Rückseite etwas stünde (tat es aber nicht), redete der aggressive Zettelverteiler mit einer Geschwindigkeit auf mich ein, die mich mehr verwirrte als alles andere und es mir zudem fast unmöglich machte, ihn zu verstehen, oder nur wenigstens auf Anhieb sagen zu können, ob das überhaupt deutsch war, was er da redete, oder ob er am Ende einen ganz furchtbaren Sprachfehler hatte, der ihn vielleicht ja auch wiederum als behindert auswiese, ja vielleicht eine neue Variante der Taubstummheit. Als ich da ewige Sekunden mit verständnislosem Blick auf ihn herabschaute (was blieb mir auch anders übrig), kam die Übersetzung (er redete tatsächlich deutsch, nur quasi auf 60 Umdrehungen) mit einiger Verspätung in meinem Gehirn an, oder zumindest die Teile, aus denen ich mir vage Informationen basteln konnte, und ich begriff, dass er mir unterstellte, ich würde doch sicherlich gerne Filme sehe und CDs hören.
“Äh, nein, eigentlich nicht”, entgegnete ich schlagfertigst, gab ihm seinen Zettel zurück und wollte weiter zur Rolltreppe, um noch meine U-Bahn zu erwischen.
“Was soll das heißen: ‘eigentlich nicht‘?”, ziemlich aggressiv.
“Tut mir leid, ich hab jetzt leider wirklich keine Zeit.” Saublöd und ganz schön lahm, ich weiß, aber was fällt einem in so einem Moment sonst ein? Nichts. Eben.
Und während ich zur Rolltreppe haste, mit dem Gefühl, dass mich alle anstarren, nur weil ich mir auf die Mitleidsmasche kein Buchclub-DVD- oder CD-Abo oder was auch immer andrehen lassen will, und mir der flüchtige, wunderschön absurde Gedanke durch den Kopf geht, dass mir der Typ am Ende eigentlich ein Kleinwüchsigen-Porno-Abo andrehen wollte, ruft er mir noch nach “Ach, ‘eigentlich nicht’ heißt also in Wirklichkeit: ‘Ich hab keine Zeit‘!?”, und fügt meiner persönlichen Hölle eine weiter Nuance hinzu.

Was soll man da tun?
Weiter gehen, als ob man nichts gehört hat? Oder sich umdrehen und sich auf ein Gespräch einlassen?
Und wie soll das gehen, wenn man vor lauter Peinlichkeit so gehemmt ist, dass man sowieso alles nur noch schlimmer machen würde, egal, was man sagt? Es ist ein weit verbreiteter lokaler Mythos, das es Leute gibt (meistens irgendwelche dubiosen Bekannten von Bekannten), die mit solchen Situationen vollkommen unbefangen, ohne jegliche Peinlichkeit umgehen können, und immer genau das richtige zu aufdringlichen Bittstellern sagen, so dass die sich nicht verarscht oder bemitleidet fühlen, sondern mit dem Gefühl, ernstgenommen zu werden, von weitern Bedrängungen absehen.
Ich glaube nicht daran, dass es solche Leute gibt. Ich kenne nur Leute, die von sich glauben, das zu können, während sie durch ihr dämliches Gehabe alle anderen Anwesenden in eine nur noch peinlichere Situation bringen, ohne das selbst allerdings in irgend einer Weise zu bemerken.

Die ehrliche Antwort auf die Frage “Ach, ‘eigentlich nicht’ heißt also in Wirklichkeit: ‘Ich hab keine Zeit‘!?” wäre eh’ nur
“Nein! ‘Eigentlich nicht’ heißt ‘Ich hab keinen Bock, mich emotional erpressen zu lassen, weder von meiner Mutter noch von Dir, und wenn du das nächste mal irgend einem armen Schwein deinen ekligen Zettel in die Hand drückst, könntest du ruhig mal einen sauberen Zettel dafür nehmen, dann wäre man vielleicht auch eher bereit, sich mit dir zu unterhalten!” gewesen, und das kann man halt auch wieder nicht sagen, auch wenn der Kleinwüchsige es im Gegensatz zu dem Taubstummen gehört hätte, und zwar kann man es aus dem gleichen Grund nicht sagen.

So hab ich dann halt das einzige getan, was man tun kann, ich bin, wie schon beschrieben, weiter gegangen, habe so getan, als ob ich nichts gehört hätte und mir gewünscht, taubstumm zu sein, denn dann hätte ich dem Zornigen Zwerg direkt meinen Gegen-Zettel in die Hand drücken können und ihn (auf Taustumm natürlich!) anschnauzen können, wenn er mir keinen Schlüsselanhänger ankaufen will!

Montag, 6. Februar 2006

Über das Grüßen Höherer Wesen

Neulich hat ein mir bekannter Westfale erzählt, er hätte bei seinem letzten Job ein Meeting mit dem Wort „Mahlzeit!“ betreten, und wäre pikiert darauf hingewiesen worden, wir seien hier doch nicht auf der Baustelle - und das auf schwäbisch, man stelle sich vor!

Als ich vor nunmehr sechs Jahren zum ersten mal nach Köln kam, habe ich einen Kiosk mit den Worten „Grüß Gott“ betreten, so selbstverständlich, wie ich das bis dahin immer getan hatte, (nur dass es da, wo ich herkomme, eigentlich keine Kioske gibt) und wurde tatsächlich mit den Worten „Wenn ich ihn treff‘!“ empfangen.
Auch wenn der Kölner Kioskbesitzer das bestimmt um einiges netter gesagt hat, als die schwäbische Kollegin meines Westfalens, war ich doch erst mal ziemlich perplex. Ich hatte nicht geglaubt, dass es dieses Klischee tatsächlich gibt, dass diese sagenumwobene Antwort mehr wäre als nur ein süddeutscher Mythos, den man sich so im Bierzelt bei einer zünftigen Maß und sich auf die krachledernen Schenkel klopfend über die Saupreiß‘n erzählt.
Ich verschwendete damals noch einen halben Gedanken daran, ob ich beim nächsten mal auf das übliche „Guten Tag“ mit einem schlagfertigen „Na, so gut ist der Tag auch wieder nicht, es sieht nach Regen aus“ antworten solle, halb, weil es so bissig humorvoll gewesen wäre, halb, weil es so unglaublich originell gewesen wäre, und zur dritten Hälfte natürlich, weil ich damit meine Kritik am Deutschen Wettervorhersge-Dienst hätte ausdrücken können, aber ich musste wohl zu Recht befürchten, dass die zu erwarteten Beifalls- und Gelächter-Stürme ausbleiben würden. Jeder Norddeutsche (oder besser: Nördlicher-Deutsche; damit meine ich alle, die nördlich das Weißwurstäquators leben), dem ich eine solch tiefsinnige Replik entgegengeschleudert hätte, hätte zu Recht mit Augenverdrehen und einem müden „Ha. Ha. Wie witzig“ reagiert. Der gleiche Nordeutsche allerdings, in Würzburg, München oder Rosenheim mit einem „Grüß Gott“ konfrontiert, fühlt sich wie der originellste Satiriker seit Fips Asmussen, wenn er die abgedroschenste aller Floskeln an den Mann bringen kann.
„Ja, wenn ich ihn mal treffe!“

Auch verstehe ich die halsstarrige, norddeutsche Eigenheit nicht, in die Grußformel „Grüß Gott“ partout etwas vermeintlich Religiöses hinein interpretieren zu wollen! So was von aus-Prinzip-humorloses kann auch eigentlich nur von norddeutschen Protestanten kommen! (Sehr zu recht, wie ich finde, stehen in keinem Lexikon der Welt unter den Begriffen „Locker“, „Unverkrampft“ oder „Humorvoll“ Querverweise zu „s.a. Norddeutsche Protestanten“!
...allerdings auch keine zu "Unterfränkische Katholiken". Aber das muss jetzt auch noch nichts bedeuten!)

Im Großen und Ganzen aber bin ich ziemlich froh, nicht mehr „Grüß Gott“ sagen zu müssen, und das ganz sicher nicht aus anti-katholischem Widerspruchsgeist! Denn obwohl ich seit meinem 13. Lebensjahr keinen Gottesdienst mehr freiwillig besucht habe (und höchstens ein halbes Dutzend unfreiwillig), hatte ich diese Formulierung nun über 20 Jahre als ganz normale, alltägliche Begrüßung benutzt und sie von diesen 20 Jahren ungefähr 19 dreiviertel Jahre lang nicht ein mal mit Gott oder der Kirche in Verbindung gebracht!

Nein, der Grund, warum ich froh bin, das „Grüß Gott“ los zu sein, ist ein ganz anderer:
Es klingt einfach scheußlich!

In Franken, meinem regionalen Ursprung, wird „Grüß Gott“ in etwa wie „GrsssG´tt“ ausgesprochen, mit einer kurzen, harten Betonung auf dem ausgelassenen o. Das klingt einfach nicht so nett wie „Tach!“, und es klingt schon gar nicht nach einem Glaubensbekenntnis! Höchstens nach einem sehr wurschtigen, gleichgültig dahingegrunzten Glaubensbekenntnis, und ganz bestimmt keins zu einer Religion, die einem irgendwas bedeutet. (Da kann man gerne Karikaturen von machen, ich verspreche, ich werde nicht zusammen mit anderen Franken norddeutschen Botschaften abbrennen!)
Ich bin sicher, dass im ganzen süddeutschsprachigen Raum niemand „GrsssG´tt“ (bzw. die regional übliche Variante mit der entsprechenden Betonung) irgendwie mit Gott oder der Kirche in Verbindung bringt! Das tun nur die Preißn!

Ich weiß allerdings noch wie heute, wie es war, als ich zum ersten mal mit „Grüß Gott“ (ich schreibe das ab jetzt wieder in Hochdeutsch, das sieht mir sonst zu doof aus, und außerdem funktioniert sonst auch meine Geschichte nicht) in Berührung kam: es war ziemlich verwirrend.
Ich war etwa sechs Jahre alt, oder vielleicht auch fünf, auf jeden Fall noch nicht in der Schule, und ich wollte meinen damals besten Freund Marcel besuchen, und Mama hatte mir genau erklärt, wie das geht mit dem Leute-Grüßen: Wenn man jemanden trifft, den man sehr gut kennt und mag, und vor allem, den man duzt (also mit „Du“ anspricht; das merke ich nur an, weil ich finde, dass das Wort „duzt“ so seltsam aussieht, wenn man es schreibt), begrüßt man ihn (oder sie) mit einem ganz normalen, mir damals schon altvertrautem „Hallo“. Trifft man jemanden, den man siezt, spricht man ihn mit „Grüß Gott“ an. Zwar hatte ich jenes mysteriöse „Grüß Gott“ damals schon öfter meine Eltern aussprechen hören, aber nun, da es endlich soweit war, dass auch ich endlich alt genug war, diese tolle Erwachsenen-Formel zu benutzen, war ich so aus dem Häuschen, weil ich endlich, endlich! zu den Großen gehören durfte, dass ich Sinn und Inhalt dieser zwei Worte anfangs nicht in Frage stellte.
So ging ich denn hin - ich war damals schon groß genug, um den Weg zu Marcels Haus allein zu gehen - und grüßte auf dieser mir damals wie eine Weltreise vorkommenden Strecke von ungefähr zehn langsamen Gehminuten jeden, aber auch wirklich jeden Menschen, der mir entgegen kam! Als ich am Abend, wieder zuhause angekommen, meinen Eltern stolz von meinen Leistungen berichtete, wurde ich abrupt eines besseren belehrt: man grüße nur Erwachsene, die man kenne, vorzugsweise namentlich, man wüsste ja nie, wer sich so rumtreibe in den Straßen Wernecks und kleine Kinder verschleppe, wenn diese ihn unbedacht mit „Grüß Gott“ ansprächen!
(Ich glaube, meine Eltern haben das nicht ganz so drastisch formuliert, aber im Großen und Ganzen war es das wohl, worauf sie hinaus wollten.)
Das verkomplizierte die ganze Sache natürlich enorm! Hatte ich mir bis dahin nur die einfache Regel zu merken „Duzen: Hallo – Siezen: Grüß Gott“, um dem Rest der Wernecker Bevölkerung für einen Fünf- oder Sechsjährigen angemessen würdevoll gegenüber treten zu können, musste ich nun einen jeden Erwachsenen, den ich traf, einer gründlichen Gesichtskontrolle unterziehen, damit auch ja nicht versehentlich jemand falsches grüßte, den ich eigentlich nicht hätte grüßen dürfen! (Wo es zudem ja auch extrem schwierig war, einen fälschlicherweise angebrachten Gruß wieder zurück zu nehmen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren!) Dies alles bereitete mir damals erheblichen Stress, und nicht selten wurde ich von gekränkten Erwachsenen, bei denen ich mir nicht ganz sicher war, ob ich sie denn nun wirklich kenne (Nasenlöcher sehen von unten alle gleich aus!), und sie daher mal lieber vorsichtshalber nicht gegrüßt habe, mit einem vorwurfsvollen „Na, Felix, du kennst mich wohl gar nicht mehr!“ bedacht. Ich halte es meiner Charakterstärke zugute, dass ich mich angesichts dieser für ein Kind ziemlich traumatisierenden Erlebnisse doch noch zu einem einigermaßen kommunikativen, oder sagen wir mal: zu einem für fränkische Maßstäbe einigermaßen kommunikativen Menschen entwickelt habe, und nicht, wie andere Kinder mit labilerer Psyche, schweigsam zu Boden blickend durch die Straßen Wernecks gewandelt bin und alle Erwachsenen gleichermaßen ignoriert oder der Einfachheit halber alle mit Steinen oder Hundekot beworfen habe (wie man mir berichtete, dass es beispielsweise in Brühl, Haselünne oder Bad Ems Brauch wäre.)

Das einzige, das ich damals trotz aller Charakterstärke nicht bewältigte, war das „Namentlich grüßen“: In all dem Stress, den das konzentrierte Nachdenken darüber mit sich brachte, ob mir mein Gegenüber nun denn auch wirklich bekannt war, vergaß ich im gleichen Moment, in dem mir einfiel, dass ich ihn (oder sie) tatsächlich kannte, aus lauter Nervosität den Namen des Betreffenden!

Und das geht mir eigentlich noch heute so.

Ich habe es in den 25 oder 26 Jahren, seit ich gelernt habe, korrekt zu grüßen, nur unter größten Anstrengungen geschafft, auf ein „Hallo, Felix“ oder „Grüß Gott, Herr X“ mit einem „Hallo, äh Christoph“ oder „Grüß Gott, Heeerr... Meier“ zu antworten. Selbst wenn mir der Name des Betreffenden irgendwann so geläufig und selbstverständlich geworden ist, dass ich ihn nur noch in Momenten größter Überrumpelung vergesse, benutze ich die namentliche Begrüßung nur höchst selten, einfach aus Gewohnheit, und weil sie mir irgendwie überfrachtet vorkommt. Ich versuche dann meistens, die doch etwas unpersönliche Anrede „Hallo“, „Tach“ oder „Grüß Gott“ mit einem persönlichen oder wissenden Blick zu übertünchen.
Ich weiß aber eigentlich nicht, ob es funktioniert.

Da ich damals aber nun auf einmal mit einer Situation konfrontiert war, die mir in jedem Moment regestes Reflektieren abforderte, fing ich nach und nach an, mein Augenmerk auch auf andere Aspekten dieser nunmehr höchst eigenartigen Begrüßungsrituale zu lenken, Aspekte, die ich vorher in meiner Euphorie angesichts dieser neuen und anfangs noch leicht zu bewältigenden Aufgabe komplett übersehen hatte.

Da war zum einen das Wort „Grüß“. Ich kannte es vorher schon, es war ja ein ganz gebräuchliches Wort, das ich schon oft gehört hatte in Wendungen wie „Grüß mir Deine Eltern.“ oder „Grüß mir den Opa.“ Neu war allerdings, dass bei dem Wort „Grüß“ eigentlich der zweite Teil, nämlich das „mir“, fehlte! Aber ich begriff rasch, dass „grüß“ und „Grüß mir“ eigentlich mehr oder weniger das selbe bedeuten musste, und dass ich ruhig „Grüß Gott“ sagen konnte und nicht „Grüß mir Gott“, ohne dabei einen groben Fehler zu begehen. Soweit also alles im Klaren. Was mir allerdings Sorgen bereitete, war, dass ich, wenn ich Leute mit „Grüß Gott“ ansprach, diese ja damit duzte, und das, obwohl ich nur Leute, die ich siezte, mit „Grüß Gott“ ansprechen sollte! Korrekt gewesen wäre „Grüßen Sie Gott“. Warum ich allerdings weiterhin bei der unangebrachten Duz-Form bleiben sollte, diesen Widerspruch konnte oder wollte mir kein Erwachsener ausreichend erklären.
Mein Misstrauen in die Zuverlässigkeit der Erwachsenen war geweckt, und so wendete ich mich bei meinem nächsten Problem, das ich mit „Grüß Gott“ hatte, gleich gar nicht mehr an sie (die Erwachsenen), sondern versuchte das Rätsel selbst zu lösen. So war mir z.B. nicht ganz klar, warum ich einen mir bekannten Erwachsenen nicht ganz einfach mit „Ich grüße Sie“ begrüßen sollte - wie es für mich logischer gewesen wäre - sondern die ganze Sache unnötig verkomplizieren sollte, indem ich einen Dritten mit hinein zog, indem ich den Erwachsenen dazu aufforderte, er solle Gott grüßen.
Zudem kam mir diese brüske Aufforderung, die schon mehr einem Befehl glich, doch sehr unhöflich vor!

Was es mit Gott auf sich hatte, wusste ich damals schon, immerhin ging ich jeden Sonntag brav mit meiner Oma in die Kirche. (Die Oma war die Religiöseste in unserer Familie. Der Opa ging nicht in die Kirche, außerdem war er Protestant und damit nach allgemeiner Auffassung sowieso ungeeignet für die Pflege kindlichen Seelenheils. Als er meine Oma geheiratet hatte, geschah das nur, weil er seinen Schwiegereltern in spe bei seiner Ehre als Mensch und Protestant versprochen hatte, dass er sich nicht in die religiöse Erziehung seiner Kinder einmische! Dafür kam später der Pfarrer Seitz (oder heißt das bei den Prostanten Pastor?), der seine Handvoll evangelischer Schäfchen in Werneck alle persönlich kannte und jeden einzelnen, der nicht mehr in die recht kleine evangelische Kirche kam, schmerzlich vermisste, regelmäßig am Samstag zu meinen Großeltern und redete eine Stunde lang auf meinen Opa ein, in der Hoffnung, ihn doch wieder in den Schoß der Kirche zurück zu führen, was mein Opa mit fröhlicher Gelassenheit quittierte, zumal die Besuche des verschrobenen Pfarrers, der beim Sprechen immer auf die gleiche Stelle links oben an der Decke starrte, so skurril waren, dass sich der Opa schon immer vorher darauf freute. Der nächst-religiöseste in der Familie war wohl mein Vater, der hin und wieder mit in die Kirche kam, wenn wohl auch eher, um seine Mutter nicht zu kränken. Auf jeden Fall besuchte er die Gottesdienste eher gleichmütig und ging nicht zur Kommunion, weil er „vorher nicht gebeichtet“ habe, was meiner Oma wohl als Ausrede genügte, und mir jedes Mal einen Wahnsinnsrespekt vor den unglaublichen Sünden einflößte, die mein mir sonst so harmlos erscheinender Vater begangen haben musste!)

Gott war mir also kein Unbekannter, und ich wusste genau, wie man es anzustellen hatte, Gott zu grüßen:
Man betete, natürlich!
Auch wusste ich, dass man sich zum Beten nicht zwangsläufig in die Kirche begeben musste, man konnte es genauso gut zuhause vor dem Bett kniend machen oder natürlich auch ganz einfach gleich an Ort und Stelle tun! So naiv war ich auch nicht, dass ich glaubte, wenn ich jemanden dazu aufforderte, Gott zu grüßen, derjenige sofort in die Kirche lief oder nach Hause, wo er sich vor sein Bett knien würde und „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ aufsagen würde! (Jedenfalls war ich nicht lange so naiv.) Auch bemerkte ich recht schnell, dass keiner der Erwachsenen, den ich begrüßte, direkt an Ort und Stelle ein schnelles Gebet aufsagte. Ich ging vielmehr davon aus, dass diese Aufforderung zum Gebet eine Art Erinnerung war, später, wenn man etwas mehr Zeit und Muße hätte, das Beten nicht zu vergessen.
Was mich allerdings verwunderte, warum ausgerechnet Gott in diese Sache mit hinein gezogen wurde, in eine Begegnung zwischen zwei Leuten, mit der er doch in diesem Moment eigentlich gar nichts zu tun hatte!
Sicher, Gott war allgegenwärtig und er war ja auch für alles, was passierte, verantwortlich, folglich also auch für diese Begegnung, aber war das jetzt wirklich so außergewöhnlich und großartig, dass ich Frau Schulz oder Herrn Emmerling extra daran erinnern musste, später deswegen ein Dankgebet zu sprechen? So toll war es nun auch wieder nicht, mir auf der Straße zu begegnen! Eine kurze Begrüßung, „Grüß Gott“ von meiner Seite „Hallo, Felix“ von der anderen, und das war’s! Und dafür sollte der andere sich jetzt extra bei Gott bedanken? Herr Emmerling traf ja im Laufe des Tages wahrscheinlich noch mindestens... na... zehn oder vier oder hundertausendmillionenmilliardenbillionen andere Kinder, da wäre er ja am Abend ewig damit beschäftigt, zu beten und sich sinnloserweise für diese vollkommen unwichtigen Begegnungen zu bedanken!
Und was war mit Gott? Hatte der nichts besseres zu tun, als all diese Begegnungen zu arrangieren und dann später Dankgebete dafür entgegen zu nehmen? Musste der nicht das Böse auf der Welt bekämpfen? Den Hunger in Afrika beenden oder ein paar Kriege verhindern zum Beispiel? So Kriege wie den, von dem mir die Oma immer erzählt hatte? War dieser Krieg vielleicht nur entstanden, weil Gott vor lauter Begegnungen und Dankgebete für Begegnungen keine Zeit mehr gehabt hatte, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern? Und jetzt? Hatten denn die Menschen gar nichts daraus gelernt? Bekamen wir vielleicht bald wieder einen neuen Krieg, weil wir uns ständig mit „Grüß Gott“ begrüßten und Gott damit von seinen wichtigeren Aufgaben abhielten? War denn die ganze Welt verrückt und nur ich allein der einzig normale, (vermutlich) sechsjährige (vielleicht aber auch nur fünfjährige) Mensch auf Erden?
Und außerdem, warum sollte ich meine Mitmenschen von allen lästigen Pflichten denn nur ans Beten erinnern? Viel sinnvoller wäre es gewesen, sie daran zu erinnern, sich die Zähne zu putzen! Wenn man vergaß, sich die Zähne zu putzen, bekam man Löcher und musste zum Zahnarzt, wenn man abends vergaß zu beten, schlief man nur etwas schlechter ein, weil man kein gutes Gewissen hatte.

All dies (oder doch das meiste davon) ging mir damals so im Kopf herum, zusammen mit ebenso wichtigen Problemen und Fragen wie: Ob ich wohl das Playmobil-Piratenschiff zum Geburtstag bekam oder wie ich die blöde Katharina Casper von der Rutsche schubsen konnte, obwohl sie ein Jahr älter und stärker war als ich.
Und so ist es doch erstaunlich, dass ich mich schon kurze Zeit später so an diesen merkwürdigen Vorgangs des Begrüßens gewöhnt hatte, dass mir bis heute (oder besser gesagt, weil heute nicht mehr das heute von oben ist, bis vorgestern) nie mehr der Gedanke kam, das Süddeutsche „Grüß Gott“ könne irgend was mit Gott oder Religion zu tun haben! Nicht einmal, als ich mich mit 13, ganz in wütender Teenager-Manier, zum Atheismus bekannte, nicht mehr in die Kirche ging und meiner Oma trotzig (aber doch höflich und vorsichtig, schließlich war sie ja immer noch meine Oma!) eröffnete, ich käme ab sofort Sonntags nicht mehr in die Kirche, weil ich nicht mehr an Gott glauben könne!
Der erhoffte Zusammenbruch aller Werte blieb dann allerdings aus, weil meine Oma ganz gelassen meinte, das sei schon in Ordnung, sie verstehe das ganz gut, sie habe früher auch mal nicht an Gott geglaubt, aber das würde sich schon wieder legen mit der Zeit, ich solle mir da keine Sorgen machen, sie mache sich auch keine, was dann allerdings meine sämtlichen Werte zum Zusammensturz brachte!
Meine Oma war auch mal Atheistin gewesen!? Das durfte nicht sein! Mein Atheismus war heilig, Zeichen meines Aufbegehrens, meines zornigen Heranwachsens, und vor allen Dingen: mein Atheismus war etwas vollkommen Neues, Einzigartiges, etwas Vorher Nie Dagewesenes! Dass meine Oma, Vertreterin einer durch und durch spießigen und religiösen Gesellschaft, meine Oma, die zum Heiligen Christopherus betete, wenn sie irgendwas nicht finden konnte, meine Oma, die mit uns, als wir noch klein gewesen waren, Kerzen in der Kapelle unserer Kirche angezündet hat, dass diese meine tief religiöse Oma früher auch mal Atheistin gewesen sein sollte, war einfach... einfach...
...mir fehlen die Worte, und ungefähr genau so fühlte ich mich auch damals!

Wenn ich allerdings heute sehe, wie meine Mutter, die bisher (und heute eigentlich auch noch) jeder Art von Religiosität skeptisch gegenüber stand, zumindest an Weihnachten und Ostern wieder in den Gottesdienst gehen will, und dann enttäuscht ist, wenn sie es wegen der ganzen Kocherei nicht schafft, glaube ich langsam, dass an dem, was Oma damals sagte, doch was dran ist.
Bei dem Gedanken, später im Alter wieder selig in den Schoß der Mutter Kirche zurück zu finden, habe ich, der ich heute meinen damaligen heiß erkämpften Atheismus schon nur noch mit der Weisheit der Jahre milde lächelnd und ein wenig peinlich berührt betrachte, doch ein irgendwie ungutes Gefühl.
Aber selbst wenn das passiert, kann ich dennoch getrost sicher sein, dass ich auch weiterhin vollkommen sinn- und gedankenlos Gott grüßen werde, ohne ihn damit zu meinen.

Ach, ja...

...und dann gibt es im niederbayerischen Sprachraum auch das noch: „Grüß Sie Gott“, wie in „Grüß Sie Gott, Frau Stammbacher!“ oder „Ja, Grüß Sie Gott, Herr Kraindl!“
Wer diese Frau Stambacher oder dieser Herr Kraindl sind und warum man sie für so enorm wichtig hält, dass man von Gott erwartet, er solle sie grüßen, anstatt umgekehrt (wo er doch wirklich was besseres zu tun hätte!), weiß man nicht so genau. Niederbayern halt. Die sind eigentlich alle von Natur aus so wichtig. Höhere Wesen eben.

Aber eigentlich vermute ich eher, dass um die korrekte höfliche Begrüßung eines Gegenübers handelt, den man zwar kennt, aber dennoch nicht so gut kennt, dass man ihn duzen möchte und ihn am Ende danach nie wieder los wird. Einigermaßen korrekte Syntax also, wie man es eigentlich erwarten möchte, und dann ausgerechnet in Niederbayern! Die sind mir unheimlich, die Niederbayern! Die Rheinländer sind da anders: Die duzen einfach jeden! Aber die sagen auch nicht „Grüß Gott“, also brauchen sie sich deswegen auch keine Sorgen zu machen!

Mein Freund H, der zwar nicht der besagte Westfale vom Anfang der Geschichte ist, und auch kein Rheinländer, sondern Niedersachse, durch den ich aber besagten Westfalen kennen gelernt habe, hat mich jetzt noch darauf aufmerksam gemacht, dass „Gruezi“ möglicherweise ebenfalls von „Grüß Gott“ komme, aber man muss ja auch nicht alles interessant und aufschreibungswürdig finden.

In diesem Sinne: ich geh jetzt schlafen, GrüßSieGott!

FEL-O-RAMA

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